Die Magie des Staunens
Während wir Erwachsenen ellenlange Einkaufszettel abarbeiten, hektisch Geschenke verpacken und über Schneematsch im Flur schimpfen, entgeht uns schnell das besondere Etwas, das die Weihnachtszeit mit sich bringt. Doch wenn wir uns darauf einlassen, dann kann es auch uns Großen gelingen, die kleinen Momente des Staunens wiederzuentdecken, sie für unsere Kinder zu schaffen und mit ihnen gemeinsam Erinnerungen zu gestalten. Denn das Staunen ist mehr als nur ein kindliches Gefühl – es ist eine Einladung, die Welt mit anderen Augen zu sehen und uns tief in unserem Inneren berühren zu lassen.
Gerade Weihnachten und Silvester sind Feste, die von einer besonderen Magie durchdrungen sind. Das Glitzern der Lichter in der Dunkelheit, eine Feder vom Christkind am Weihnachtsbaum, zauberhafte Lichtinstallationen, die das frühere Feuerwerk ersetzen, uns aber nicht weniger staunen lassen – all das weckt in uns ein Gefühl, das … ja, was ist das eigentlich, das Staunen? Dieses Gefühl, von etwas Großem, etwas Wunderschönem überwältigt zu werden? „Staunen ist ein Ausdruck der Überraschung – und immer etwas, das so stark emotional begleitet ist, dass wir uns später noch daran erinnern“, erklärt Prof. Dr. Claus-Christian Carbon vom Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie und Methodenlehre an der Universität Bamberg. „Normalerweise laufen wir in einem automatisierten Prozess durch unsere Welt – beim Staunen aber, da wird dieser Automatismus unterbrochen.“
Unser Geist öffnet sich also für neue Perspektiven. Denn das Staunen hilft uns dabei, unsere gewohnten Denkmuster zu unterbrechen. Es lässt uns innehalten, reflektieren, weckt die Neugier, verändert unseren Blick auf die Welt und unsere Beziehung zu ihr. Und das wiederum aktiviert Gehirnregionen, die unter anderem mit Lernen und Kreativität verbunden sind. „Staunen erzeugt Aufmerksamkeit, und das bedeutet, dass ich sogenannte Marker setze, etwas tiefer verarbeite und andere Hirnregionen aktiv sind als sonst. Staunen kann man also nicht mal so nebenbei, das erfordert unsere ganze Energie, wir stehen da mit offenem Mund, großen Augen …“ Das Staunen bringt einen Hauch von Magie in unseren Alltag.
Und es kann eine Brücke zueinander bauen. Gerade in der Vorweihnachtszeit, die oft von Stress und Termindruck geprägt ist, kann das Staunen – zum Beispiel in dem Moment, in dem es das erste Mal schneit – auch für innere Ruhe sorgen und emotionale Verbindungen schaffen. Und wenn wir Erwachsenen uns darauf einlassen, dann können wir spüren, wie ein solcher Moment für ein Kind zu einem kleinen Wunder wird. Das Staunen gibt uns die Möglichkeit, innezuhalten, die wichtigen Dinge wertzuschätzen und zu sehen, dass das Leben so viel größer ist als unsere alltäglichen Sorgen.
In einer Zeit, die oft hektisch ist, hilft es uns, uns wieder mit den wirklich wichtigen Dingen zu verbinden: mit der Familie, mit der Natur und mit uns selbst. „Und da man sich an etwas, über das man gestaunt hat, viel stärker erinnert, ist es wichtig, Plattformen zu schaffen, um staunen zu können – etwas vorzubereiten, zu inszenieren, zu zelebrieren.“ Und dieses dann auch gemeinsam zu genießen, statt etwa den Weihnachtsgottesdienst direkt im Anschluss zu zerpflücken und sich darüber aufzuregen, dass die Orgel wieder mal ihren Einsatz verpasst hat. „Das Traurige am Staunen ist“, findet Professor Carbon, „dass es von Erwachsenen oft vernachlässigt wird. Wir gehen durch die Welt, als hätten wir alles schon gesehen. Statt sich ergreifen zu lassen, sich emotional mitreißen zu lassen, zum Beispiel von der Musik, gehen viele in den analytischen Modus, der alles erklärt und bewertet – aber da entgeht einem etwas. Ein Leben ohne Staunen ist deutlich ärmer.“
Denn, so könnte man es zusammenfassen: Jemand, der sich und anderen das Staunen erlaubt und diesen Moment voll und ganz genießen kann, sich ergreifen lässt, der sammelt schöne Erinnerungen. Und das könnte eventuell das Wichtigste sein, was wir in unserem Leben tun können.
Text: Simone Blaß