Das dialogische Lesen
Das Experiment: Eltern wurden gebeten, ihren Kindern regelmäßig vorzulesen. Allerdings sollten sie nicht einfach eine Geschichte von Anfang bis Ende vortragen, sondern wurden darin geschult, ihre Kinder durch Nachfragen wie „Was siehst du hier?“, „Wie fühlt sich Emil wohl?“ oder „Was würdest du an Ronjas Stelle jetzt tun?“ aktiv in die Geschichte mit einzubeziehen. Neugierig, wie das geht? Ausprobieren ist ausdrücklich erwünscht!
Diese spezielle Form des Vorlesens – das sogenannte dialogische Lesen – wurde Ende der 1980er Jahre von Grover J. Whitehurst konzipiert, um sozial benachteiligte Kinder in ihrer Sprachentwicklung zu stärken. Wie erwartet, verbesserten sich die teilnehmenden Kinder in der Anwendung korrekter Regeln der Grammatik und eigneten sich viele neue Wörter an. Doch nicht nur das. Nachdem die Eltern ihren Kindern einige Wochen regelmäßig vorgelesen hatten und die Geschichten nutzten, um mit ihren Kindern ins Gespräch zu kommen, konnten sich die Kinder besser in die Lage anderer versetzen, spielten fantasievoller und lösten Konflikte mit Gleichaltrigen friedlicher.
Mit Kindern in Kontakt kommen
Ob diese zahlreichen positiven Auswirkungen Whitehurst und sein Forscherteam verblüfft haben? Fraglich. Denn eines wird hier offensichtlicher denn je: Bücher bieten unzählige Möglichkeiten, um mit unseren Kindern in Kontakt zu kommen. Anhand von Geschichten setzen sich Kinder mit Themen wie Freundschaft oder vielfältigen Familienformen auseinander und werden auf Ereignisse wie die Geburt eines Geschwisterchens oder die anstehende Einschulung vorbereitet. Also: Nichts wie ran an die Bücher – das gilt für Babys ebenso wie für Schulkinder!
Das Vorlesen entwickelt sich mit dem Kind
Schon bevor Kinder zu sprechen beginnen, lernen bereits die Kleinsten beim gemeinsamen Bilderbuch anschauen etliche Wörter und entwickeln dank Reimen und kurzen Texten ein Gespür für ihre Muttersprache. Blättern wir weiter in Lektüre für Kindergarten- und Schulkinder, so fällt auf, dass die Begriffe in Kinderbüchern nun zunehmend kompliziert werden. Verständlich, dass sich der Wortschatz von Kindern dank des Vorlesens verbessert. Noch verständlicher, dass es oft einige Wiederholungen braucht, bis Kinder die Geschichte wirklich begriffen haben. Wichtiger als das Wissen um Knappe oder Pirouette ist allerdings, dass wir durch Bücher Interesse an dem zeigen, wofür sich unser Kind gerade so sehr begeistert.
Die Welt des Kindes teilen
Und das kann einen netten Nebeneffekt für uns Eltern haben: Während wir gemeinsam mit unserem Pferdenarr oder unserer angehenden Weltraumforscherin „Wieso? Weshalb? Warum?“-Bücher ansehen, bilden wir uns mitunter ganz nebenbei selbst weiter. Ich zumindest kannte weder den Unterschied zwischen Löschgruppen- und Tanklöschfahrzeugen der Feuerwehr noch wusste ich um die Existenz von Pachycephalosaurus. Wer genug hat von Sachbüchern, der taucht beim gemeinsamen Lesen von Märchen in eine Welt aus Magie und Fabelwesen ein. Diese Fantasiegeschichten legen den Grundstein einfallsreicher Rollenspiele – daher nicht wundern, wenn der Fußboden plötzlich unbetretbar ist, weil er aus heißer Lava besteht oder der Wohnzimmerteppich zu „fliegen“ beginnt.
Das Potential des Vorlesens erkennen
Eine Umfrage der „Stiftung Lesen“ fand heraus, dass die Zahlen für Deutschland ähnlich ernüchternd sind wie die der US-amerikanischen Studien zum dialogischen Lesen. Rund 32 % der Eltern lesen ihren Kindern nie oder nur selten vor. Dabei zeigte Whitehurst eindrücklich, wie einfach und gleichzeitig genial Vorlesen ist. Seine Kernbotschaft lautet: Beim Vorlesen geht es um weit mehr als um das Lesen! Tonie, tiptoi und Co erfüllen zwar gute Dienste, damit Kinder eine lange Autofahrt überstehen oder sich kurz allein beschäftigen. Doch Bücher halten noch viel mehr bereit, wenn wir diese als Gelegenheit nutzen, um unseren Kindern volle Aufmerksamkeit, lebendige Gespräche und kuschelige Geborgenheit zu schenken.
Abschließend gilt wie immer: no pressure! Erzwungen wird auch Vorlesen keinen Spaß machen. Vielleicht brennt das Kind gerade mehr für Playmobil oder liebt es, zu basteln. Gut so, denn in solchen Momenten können wir uns entspannt zurücklehnen und gemütlich selbst in der ELMA schmökern. Als Vorbild bringen wir unseren Kindern mitunter auch so die Freude am Lesen bei.
Text: Elisabeth Rose