Der Stubenhocker

Wenn Handy & Co. wichtiger sind als Freunde
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Mark Twain trifft es auf den Punkt: Wir können es unseren Kindern nicht recht machen. Sie uns aber auch nicht so richtig. Sind die Teenager zu viel unterwegs, dann treiben sie sich rum, sind sie dauernd zu Hause, gelten sie als sozialer Problemfall. Doch nur, weil das eigene Zimmer gerade der bevorzugte Ort ist, ist man noch lange kein Stubenhocker. Und wenn doch, dann wird sich diese Phase auch wieder legen.

In einer anderen Welt ...

Gefühlt passiert es von einem Tag auf den anderen: Unser Kind liegt stundenlang im Bett, drückt sich herum oder sitzt vor dem PC und taucht komplett in eine andere Welt ab. Eine Welt, die wir noch dazu nicht kennen und die wir auch nicht kennenlernen können, weil uns bereits vom kurzen Zusehen schon schlecht wird.

Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass unser Nachwuchs weniger draußen ist, als wir es früher waren. Viele von uns gehören noch zu der Generation, die die Nachmittage in selbstgebauten Baumhäusern verbracht hat. Aber schicken Sie doch heute mal einen Neunjährigen auf die Straße, damit er draußen spielt. Und wundern Sie sich bitte nicht, wenn er nach fünf Minuten wieder da ist. Denn da ist keiner in seinem Alter. Da ist überhaupt kein Kind. Außer dieses Kind marschiert gerade GPS-überwacht von einer Betreuungseinrichtung nach Hause, geht zu irgendeinem Kurs oder hat eine feste Verabredung mit einem Freund oder einer Freundin. Und dann spielen diese beiden miteinander. Und nur diese beiden und zwar von 15:45 bis 17:15 Uhr und am besten noch mit einem Lego-Pack, dessen Teile nummeriert vorgeben, wie sie zusammengesetzt werden müssen.

Das verplante Leben.

Mal abgesehen davon, dass unseren Kindern dadurch, zumindest wenn sie nicht gleich einen ganzen Satz Geschwister haben, die natürliche und unbeobachtete Regulierung untereinander verloren geht, so lernen sie auch nie, spontan zu sein. Sich einfach zufällig hinterm Haus zu treffen, Zeit zu haben und diese irgendwie zu füllen. An der frischen Luft und mit Kreativität. Wieso sollten sie es also mit Startschuss in die Jugend plötzlich können? Die einen machen einfach weiter wie bisher, nur dass aus dem Kinderturnen vielleicht eine Band wird. Und die anderen auch, nur dass sie keine nummerierten Teile mehr zusammensetzen, sondern Minecraft spielen. Und der Freund nicht mehr daneben sitzt, sondern in einem kleinen Fenster am rechten oberen Bildschirmrand. Ist ein jugendlicher Stubenhocker vor dem PC also vielleicht gar kein echter Stubenhocker, sondern jemand, der einen anderen, einen virtuellen Weg gefunden hat, gemeinsam mit Gleichgesinnten Welten zu erobern – ohne dauernd dabei beobachtet zu werden?

Chillen ist die Kunst, sich beim Nichtstun nicht zu langweilen.

Teenager brauchen ihre Peer-Group, so nennen das die Soziologen, sie brauchen Gleichaltrige, Gleichgesinnte. Unorganisiert und unkontrolliert. Sie brauchen aber auch die Möglichkeit, sich mal zurückzuziehen. Alleine. Wir Eltern können es meist erst mal gar nicht fassen, dass da plötzlich jemand ist, der uns nicht in seinem Zimmer haben will, der mal chillen muss und der absolut keine Lust hat, mit uns am Sonntag in der Fränkischen wandern zu gehen. Auch dann nicht, wenn wir ihm ein Eis in Aussicht stellen. Frei nach den Ärzten „Und du warst so ein süßes Kind“ beschweren wir uns lieber, statt unser Kind, das eben keines mehr ist, mal in Ruhe zu lassen. Auch dann, wenn es seine Höhle nicht verlassen möchte und wenn diese Höhle vielleicht auch nicht so aussieht, wie wir uns ein freundliches, helles Jugendzimmer vorstellen.

Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit.

Ab und zu mal in der Stube hocken, und zwar allein, das ist nichts Schlechtes. Im Gegenteil, das kann sehr guttun. Solange man es selbst so will und sich beim Alleinsein wohl und sicher fühlt. Einsamkeit aber kann krank machen. Wobei ein Kind nicht zwingend einsam ist, nur weil es viel Zeit in seinem Zimmer verbringt. Manche brauchen nach dem Trubel in der Schule einfach mal eine Pause, andere sind extrem kommunikativ – die Eltern bekommen es nur nicht mit, weil sich der Austausch mit anderen auf WhatsApp abspielt. „Onlinespiele können für manche Jugendliche, vor allem Jungs, ebenfalls eine gute Austauschmöglichkeit sein – und eine, von denen Eltern nicht immer etwas mitbekommen beziehungsweise mitbekommen sollen“, weiß Dorothea Jung von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke) in Fürth. „Das sollte aber nicht soweit gehen, dass man gar nicht mehr vor die Tür geht oder sich dauernd in der Schule krankmeldet. Da sollten Eltern schon genauer hinsehen“, erklärt die Sozialpädagogin. „Und wenn es ganz schlimm wird“, warnt Dr. Martina Hirner, Nürnberger Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, „dann muss man auch in Richtung Depression oder Spielsucht denken.“ Und sich Hilfe holen.

Früher Bücherwurm, heute Computerfreak.

Computer und Playstation sind in vielen Familien zum Hauptproblem geworden. Aber es gehört auch zum Grundrepertoire der Gattung Eltern, sich Sorgen zu machen und Neues argwöhnisch zu beäugen. Schließlich wollen wir unser Kind vor Bösem schützen. Das war schon in den vierziger Jahren so, als Psychiater nachzuweisen versuchten, dass Comics eine katastrophale Wirkung auf Kinder und Jugendliche haben, zu einer oberflächlichen, klischeehaften Wahrnehmung ihrer Umwelt, ja gar zur Gewaltverherrlichung führen. Ist das nicht das, was man heute auch den Computergames vorwirft? Natürlich ist es nicht von der Hand zu weisen, dass es ungesund ist, seine gesamte freie Zeit vor einem Bildschirm, welcher Art auch immer, zu verbringen und sich dabei höchstens zu bewegen, um zur Cola zu greifen. „Ein Mangel an körperlicher Aktivität beeinträchtigt nicht nur die physische, sondern auch die psychische Gesundheit und schränkt die kognitive Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen ein“, fasst es Julia Birnbaum von der Stiftung Kindergesundheit zusammen. „Anhaltender Bewegungsmangel kann wissenschaftlichen Studien zufolge sogar Stressreaktionen wie zum Beispiel Unruhe, Unkonzentriertheit oder Schlafprobleme auslösen.“ Und das wollen wir natürlich nicht.

Computerspiele können schädlich für die seelische Entwicklung sein

Die Pubertät ist eine schwierige Zeit für Jugendliche, eine Zeit der Veränderung, in der innere Kämpfe, Stimmungsschwankungen und auch mal traurige Phasen ganz normal sind. Um das anschaulich zu machen, vergleicht Dr. Martina Hirner den jetzt stattfindenden Umbau des Gehirns mit dem Straßenbau. „Bei Kindern sind es kleine beschauliche Straßen und Gassen, wie im Bilderbuch, aber auf dem Weg zum Erwachsenen werden diese kleinen Straßen zur Autobahn umgebaut – mit allem, was dazu gehört: Umleitungen, halbfertige Brücken, mal kann man Gas geben, dann wird man wieder ausgebremst – gerade in dieser Zeit sind Computerspiele oft ungünstig für die seelische Entwicklung.“

Also einfach verbieten?

„Das bringt nichts“, ist man sich bei der bke sicher. „Besser ist es, in einem ruhigen Moment – und die gibt es zum Glück ja in der Pubertät auch – mit dem Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, offen und vorwurfsfrei nachzufragen, was unser Kind so fesselt an einem bestimmten Spiel, mit wem es spielt, warum es spielt und wie viel Zeit es selbst – neben Hausaufgaben und Sport – dafür für angemessen hält.“ So können Eltern ihre Sorgen ausdrücken und sich gemeinsam mit ihrem Kind auf Regeln einigen. Auch Dr. Martina Hirner plädiert dafür, dass Eltern versuchen sollten, ihr Kind zu verstehen. „Aber üben Sie trotzdem immer wieder leichten Druck aus, wenn es sich zum Stubenhocker entwickelt. Schubsen Sie das Kind mit viel Liebe aus dem Zimmer. Und bieten Sie ihm regelmäßig gemeinsame Aktivitäten an, laden Sie zum Beispiel Freunde mit Kindern im gleichen Alter ein und fordern Sie auch Mithilfe ein – schließlich leben wir in einer Gemeinschaft.“

„Wir brauchen unsere Kinder nicht zu erziehen, sie machen uns sowieso alles nach“

Das hat Karl Valentin einmal gesagt. Und so unrecht hatte er nicht. Haben Sie sich schon einmal dabei beobachtet, wie oft Sie am Tag Ihr Handy in der Hand haben? Selbst wenn Sie nur schnell die E-Mails von der Arbeit checken, den Elternstammtisch per Whats-App-Gruppe planen, sich die neuesten Fotos von der frischgeborenen Nichte ansehen und die aktuelle Nachrichtenlage verfolgen? Und was machen Sie am Wochenende am liebsten, wenn die Hausarbeit und die Einkäufe erledigt sind? Mit einer Pizza vom Lieferdienst auf die Couch und einen schönen Film anschauen? Um unsere Stubenhocker hinter dem Ofen hervorzulocken, müssen wir auch bereit sein, eigene Gewohnheiten zu überdenken. Je früher, desto einfacher. „Eltern haben bereits sehr früh die Möglichkeit, ihren Kindern zu zeigen, wie man seine Freizeit sinnvoll für sich nutzen kann.“ Das bedeutet nicht, dass man die Kids komplett verplanen oder ihnen Chinesischunterricht anbieten soll, aber wenn sie früh Freizeitmöglichkeiten wie Sport oder Musik kennenlernen und etwas finden, was ihnen wirklich Spaß macht, dann, so die Sozialpädagogin Dorothea Jung, „ist das eine gute Grundlage für so manche Phase in der Pubertät. Solche Termine sind nämlich wie Anker im Alltag und bieten außerdem die Möglichkeit, Kontakt zu anderen Jugendlichen zu haben, Freundschaften auch außerhalb der Schule zu pflegen.“

Je jünger die Kinder sind, desto mehr Chancen haben wir, kleine Stubenhocker zu animieren, draußen etwas zu  unternehmen. Gemeinsam. Das klappt allerdings nicht, wenn wir zum einen selbst unserem inneren Schweinehund zu oft nachgeben und auch nicht, wenn wir tief in unserem Inneren das Spielen draußen für gefährlich halten, Angst um die neue Hose haben oder bei Regen fürchten, dass sich das Kind eine Erkältung einfängt. Ein Kind, das draußen spielt, muss erkunden können, muss sich dreckig machen dürfen. Ein blauer Fleck oder ein paar Schrammen haben noch keinem geschadet, das konsequente Abhalten von Ausprobieren allerdings schon. Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen – so ist das Leben. Als Kind, als Jugendlicher und als Erwachsener. Und wenn man das nicht früh genug lernt, fällt es später immer schwerer, das sichere Umfeld zu verlassen und die Welt für sich zu erobern.

Smartphone & Playstation: Wie viel Zeit ist angemessen?

Sie wünschen sich einen Leitfaden, der Ihnen sagt, welche Mediennutzung richtig oder falsch ist? Eine Anleitung, die dem Alter, den Bedürfnissen und der Persönlichkeit Ihres Kindes gerecht wird? So etwas werden Sie nicht finden. Denn die passenden Richtlinien können Sie nur selbst mit Ihrem Nachwuchs aufstellen. Individuell.  

Natürlich gibt es Richtlinien. Die allerdings sind mit Vorsicht zu genießen, weil sie viele Aspekte außen vor lassen. Denn Mediennutzung ist nicht gleich Mediennutzung. Man kann stundenlang zocken, man kann aber auch Wissen spielerisch abfragen oder eine Präsentation vorbereiten. Man kann alleine spielen, aber auch in einer Community. Man kann sich über einen Messenger unterhalten oder hinter dem Rücken anderer lästern. Und dass es bei YouTube von extrem lehrreich bis einfach nur dämlich alles gibt, steht außer Frage.

Klein-  und Kindergartenkinder sollten vom Smartphone ferngehalten werden, da besteht kein Zweifel. Aber ab dem Grundschulalter ist es sinnvoll, den richtigen Umgang mit den Medien und auch dem Internet zu üben. Damit das Kind dann, wenn es ein eigenes Handy bekommt, damit auch umgehen kann und nicht in die klassischen Fallen tappt. Sehen Sie sich gemeinsam mit Ihrem Kind an, was es interessiert, geben Sie Tipps für die Nutzung und üben Sie die Kommunikationsregeln, klären Sie Ihr Kind über die mit Mediennutzung zusammenhängenden Rechte auf und sorgen Sie dafür, dass zum Beispiel zu den Hausaufgaben, beim Essen und auch beim Zubettgehen kein Handy in der Nähe ist. Und vor allem: Halten Sie sich selbst daran. Denn nichts ist unglaubwürdiger, als Eltern, die ihr Kind wegen seiner überzogenen Mediennutzung rügen und selbst kaum vom Handy aufsehen.

Text: Simone Blaß

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