Wenn die Schwester anders ist

das Familienleben mit einem Kind mit Behinderung
Geschwisterkinder

Ein Kind mit einer Behinderung fordert die ganze Familie. Das weiß Hildegard Metzger aus eigener Erfahrung – nicht nur als Mitinitiatorin des ersten integrativen Kindergartens in Unterfranken. Ihre Tochter Elisabeth hat eine geistige Behinderung, ihr Sohn Johannes ist nur zwei Jahre älter. Heute sind die Kinder längst erwachsen. Ihre Tochter arbeitet in einer Behindertenwerkstatt und lebt in einem Wohnheim, ihr Sohn hat seine eigene Familie gegründet.

Wie bei vielen Kindern wurde damals erst langsam klar, dass Elisabeth eine Behinderung hat. Einige Klinik-Aufenthalte trennen die Familie kurz nach der Geburt. Für viereinhalb Monate geht Metzger mit ihrer Tochter ins Epilepsiezentrum nach Straßburg. Ihre Tochter ist da zwei, ihr Sohn vier Jahre alt. Ein Gespräch über das Zusammenleben, die Pubertät und die Schwierigkeit beim gemeinsamen Urlaub.

Mit Kindern über Behinderung sprechen

Irgendwann kam der Punkt, an dem Sie mit Ihrem Sohn über die Behinderung seiner Schwester sprachen. Wie geht man so ein Gespräch an? Hat Ihr Sohn verstanden, was mit seiner Schwester passiert?
Damals habe ich es ihm erklärt, soweit ich es konnte. Aber das ist natürlich in dem Alter … Er hat nur gewollt, dass Mama einfach wieder dableibt. Als es dann ging und wir langsam unser Leben sortiert hatten, habe ich festgestellt: Johannes ist ein Segen für seine Schwester, weil er schnell einen Zugang zu ihr gefunden hat. Und Elisabeth hat unglaublich auf ihn reagiert.

Können Sie die Zeit zu Beginn genauer beschreiben? Welche Herausforderungen gab es?
Mein Sohn hat für vier Monate eine Mama erlebt, die ständig weg war, dann mal wieder kam, wieder weg war, weil ich fast die ganze Zeit mit meiner Tochter in der Klinik war. Das war für uns eine erste große Herausforderung. Da hat er ein Stück weit die Sicherheit verloren, weil seine Mama einfach immer wieder verschwand. Wir waren schon eine Familie, die immer wieder zerrissen war, weil seine Schwester und die Sorge um sie im Vordergrund standen. Über Weihnachten durften wir für drei Tage nach Hause. Am zweiten Weihnachtstag musste ich ihm sagen, dass seine Mama morgen wieder fährt. Das war eine heftige Zeit für ihn. Wenn ich da war, hatte er stets Angst, dass ich wieder verschwinde. So verlor er auch etwas diese Verlässlichkeit, das Behütete.

Geschwisterkinder von kranken Kindern

Sie müssten ja selbst erstmal auch Orientierung finden.
Gerade am Anfang, mit der Klinik, der Diagnose, der Therapie, da waren viele Dinge noch nicht klar. Da waren wir als Familie ja alle auf der Suche. Wie sehr wir uns da auch sorgten, das bekommen Geschwisterkinder natürlich mit. Oder wenn Elisabeth wieder epileptische Anfälle in der Nacht hatte. Ich war komplett belastet und morgens fertig. Das kriegen Kinder mit. Sie spüren: Mama und Papa sind am Anschlag. Und viele Kinder leben dann nach der Devise: Ich darf nicht auch noch auffallen.

Wie zeigte sich der von Ihnen angesprochene schnelle Zugang Ihres Sohnes zu Ihrer Tochter?
Gerade in den ersten Jahren war meine Tochter in der Wahrnehmung und in anderen Bereichen durch die Medikamente ziemlich hyperaktiv. Aber unser Sohn hat einen Zugang zu ihr gefunden, auf den hat sie gehört. Das war für mich der Ansporn damals, dass ich um einen integrativen Kindergarten gekämpft habe. Ich war Erzieherin. Und das war der erste integrative Kindergarten hier in Unterfranken, den wir mit einer Elterninitiative aufgebaut haben. Und es war erstaunlich, wie die Geschwisterkinder einen Zugang gefunden haben, mit ihren behinderten Geschwistern umzugehen.

Nähe und Abgrenzung

Es gibt im Heranwachsen ja noch die kritische Phase der Pubertät. Viele Jugendliche rebellieren da gegen ihre Eltern, um sich abzugrenzen. Wie war diese Zeit bei Ihnen in der Familie?
Mein Sohn hat sich da schon etwas abgesondert. Vor allem, wenn seine Freunde kamen. Er hat natürlich die Reaktion gemerkt, das Erstaunen. Die Freunde fragten: Was macht Deine Schwester für komische Töne? Er hat es dann versucht zu erklären und sich mit seinen Freunden in sein Zimmer zurückgezogen. Das war für uns aber okay. Wenn wir in den Urlaub gefahren sind, haben wir oft einen seiner Freunde mitgenommen.

Warum?
Meistens hatte er niemand, mit dem er was hätte machen können. Und er hat sich ein wenig schwerer getan, einfach spontan zu einer Gruppe zu gehen. Da war er froh, wenn ein Freund dabei war, der uns kannte. Da hat man diese Abgrenzung schon gemerkt – und auch, dass ihm das Auffallen sehr unangenehm war. Das hat ihn beschäftigt. Das hat sich alles eingespielt und war nicht so das große Problem, muss ich sagen. In der Pubertät gehen Kinder sowieso ihre eigenen Wege.

Johannes Metzger:
„Als ich so 12, 13 Jahre alt war, wurde mir bewusst, dass meine Schwester anders als andere Kinder ist. Es kann sein, dass ich als Bruder damals zurückstecken musste. Das habe ich aber nie als Nachteil empfunden. Was meine heutige erwachsene Sicht ist. Hättest du mich damals gefragt, hätte ich vielleicht anders geantwortet. Elisabeth und ich haben uns früher gezankt wie andere Geschwister auch, was ja nicht ungewöhnlich ist. Ich empfinde und empfand aber keine Ungerechtigkeit wegen Elisabeths Behinderung. Wir haben das als Familie alle super gemacht. Unser Verhältnis ist sehr herzlich.“

Interview: Björn Bischoff

Informationen über Unterstützungsangebote für Eltern von Kindern mit Behinderung finden sich auf intakt.info – doch nicht nur das. Eine große Community ermöglicht den Austausch für Eltern und Geschwister von Menschen mit einer Behinderung.

Dazu gibt es speziell die Plattform erwachsene-geschwister.de, auf der Geschwister von Menschen mit Behinderung im Mittelpunkt stehen. Newsletter, der Podcast „Für immer anders“, Stammtische in verschiedenen Regionen und weitere Angebote ermöglichen den Austausch.

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