Welche Nahrung braucht die Paarbeziehung?
Wo fängt Fremdgehen an? Wenn ich mit anderen intime Beziehungsthemen bespreche? Bei den ersten Bildern im Kopf? Bei einem Kuss? Oder doch erst, wenn es wirklich zum Sex kommt? Was für den einen noch völlig okay ist, ist für den anderen möglicherweise schon eine Katastrophe. ELMA hat sich mit der Paartherapeutin Ursula Eberle über das Thema unterhalten und herausgefunden: Das Fremdgehen ist nur das Symptom.
Wann kommt es zum Fremdgehen?
Wann kommt es denn Ihrer Erfahrung nach am ehesten zu einem Fremdgang?
In Lebensphasen, in denen die Erfüllung der Bedürfnisse z. B. nach Wertschätzung oder Sexualität in der Paarbeziehung erschwert ist, also zum Beispiel Übergangsphasen wie die Geburt eines Kindes, der Kindergarten oder auch der Auszug der Kinder. Besondere Herausforderungen erfordern ein neues Gleichgewicht, ein Ausbalancieren der unterschiedlichen Bedürfnisse – und das wird umso schwieriger, wenn zusätzliche Belastungen wie Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Schicksalsschläge dazukommen. Da besteht schnell die Gefahr einer Beziehungskrise.
Fremdgehen ist wie ein Unfallauto – heil und wertvoll wird es nicht mehr. Stimmt dieser Spruch?
Daran kann eine Beziehung natürlich zerbrechen. Aber es ist auch möglich, zu verstehen, welcher Entwicklungsschritt erforderlich ist. Fremdgehen ist eine von vielen möglichen Fluchttreppen aus dieser Situation, und natürlich sind da Gefühle im Spiel wie Ärger, Wut, Eifersucht und Verlustängste – aber die Wurzel ist nicht immer das Fremdgehen an sich, es sind die verletzten Absprachen. Es gilt, sich zu fragen, was war die Kränkung, was hat den Schmerz ausgelöst? Oft ist das gar nicht der sexuelle Kontakt, sondern sind es die Lügen, das erschütterte Vertrauen. Und dann ist es entscheidend, ob es dem Paar gelingt, ins Gespräch zu kommen. Jede Krise bringt etwas in Bewegung und birgt die Chance, etwas Neues hervorzubringen. Besonders schwierig wird es allerdings dann, wenn Kinder oder Jugendliche in den Paarkonflikt der Eltern verwickelt werden und in Loyalitätskonflikte kommen.
Familienleben als Herausforderung
Gerade während der Schwangerschaft oder in den ersten Monaten nach der Geburt empfinden Frauen Untreue aber als besonders schlimm …
Da kommen viele Elemente zusammen: der große Veränderungsprozess, der durch die Hormone ausgelöst wird, Zweifel an der Attraktivität, eine besondere Empfindsamkeit und der Wunsch nach Sicherheit für sich und das Baby – das alles fällt ins Gewicht. Die Frauen fühlen sich oft abhängig. Aber auch für die Männer ist es eine schwere Zeit, und auch für sie kann eine schwierige Geburt zur traumatischen Erfahrung werden. Sie werden mit ihren eigenen Ängsten konfrontiert, fühlen sich ohnmächtig und stehen zusätzlich unter einem Erfolgs- und Leistungsdruck in der Ernährerrolle. Die Lebensphase, in der wir eine Familie gründen, nennen wir auch „rushhour of life“, da sich der Stresspegel enorm vergrößert, durch die Konzentration von gleichzeitigen Anstrengungen wie Familienzuwachs, Karriere, Umzug oder Hausbau in einer Lebensphase. Wenn ich mich woanders verliere, kann ich mich im ersten Moment gut von diesem ganzen Stress und Druck ablenken.
Kommt es also zum Fremdgang, weil die Männer sich vernachlässigt fühlen?
Diese Beziehungszeit ist dadurch gekennzeichnet, dass Bedürfnisse nicht genügend gestillt werden – auf allen Ebenen. Es bleibt kaum Zeit für Ausgleich. Stattdessen fühlt die Mutter sich oft ausgefüllt – manchmal regelrecht ausgesaugt – durch das Stillen und den permanenten Kontakt mit dem Kind. Meist hat sie weniger Verlangen nach Körperkontakt mit dem Partner oder der Partnerin. Die Gefahr besteht, dass die Paarebene verhungert. Wichtig ist dann, herauszufinden, was wird vermisst, was sind die jeweiligen Bedürfnisse und welche „Nahrung“ braucht die Paarbeziehung? Ohne Kommunikation kommt es dann schnell zu Vorwürfen im Sinne von „Ich würde ja gerne mit dir Sex haben, wenn du mich mehr entlasten würdest“ und „Ich würde dich ja mehr entlasten, wenn du nicht alles besser wissen und dauernd an mir herumnörgeln würdest“. Dieser Beziehungstanz ist ein Teufelskreis und der eigentliche Feind.
Klischees und Mythen
Unter der Überschrift „Mama geht fremd“ schreibt „Die Zeit“ einmal: „Es ist eines der wenigen Tabus, die noch gelten – eine Mutter gehört zu ihrem Kind und nicht in die Arme eines fremden Mannes.“
Diese gesellschaftlichen Mythen bzw. Machtverhältnisse, bei denen das gleiche Verhalten von Männern und Frauen unterschiedlich bewertet wird, sind immer noch stark verbreitet. Klare Klischees und Geschlechtszuschreibungen helfen zum einen, die Komplexität zu vereinfachen und zum anderen, patriarchale Privilegien zu sichern. Manchen Menschen fällt es leichter, zu verurteilen als zu hinterfragen.
Krise ist normal
Was empfehlen Sie Eltern, die sich gerade in einer dieser Übergangsphasen des Lebens befinden?
Zunächst einmal die Akzeptanz, dass so ein Übergang eine ganz normale Krise darstellen kann. Und dann gilt es, dafür zu sorgen, dass die Paarebene nicht verhungert, sondern Raum erhält für die Einzelnen – aber auch, um sich gegenseitig Gefühle und Wünsche mitzuteilen. Man sollte darauf achten, nicht die ganze Energie ins Außen zu stecken, sondern sich auch fragen: Welches Dach soll unser inneres Beziehungshaus haben, welche Werte sind uns wichtig, woran möchten wir uns orientieren, welche Traditionen aus den Herkunftsfamilien fortführen? Wie lassen sich die Entwicklungsaufgaben gemeinsam meistern? Mit Verständnis und Wertschätzung. In so herausfordernden Zeiten ist es gut, wenn beide sich einfach mal in den Arm nehmen und Mitgefühl füreinander zeigen, statt sich mit unnötigen Streiten und Vorwürfen gegenseitig noch zusätzlich die Kraft zu nehmen.
Interview: Simone Blaß ELMA #17, August/September 2022