Märchenstund hat Gold im Mund

Warum Schneewittchen und Gefährten so wichtig für Kinder sind.
Titelbild Märchen

Es ist eine Welt, in der wir alle mal zu Hause waren: Sie besteht aus Dornröschen-Schlössern, Rapunzel-Türmen, Lebkuchenhäusern und tiefen, dunklen Wäldern, in denen Wölfe, Rumpelstilzchen und verhexte Frösche leben. Die Märchenwelt hat unsere Kindheit verzaubert.

Warum Märchen wichtig sind

Magische Phase oder zauberhaftes Denken nennen Kinderpsychologen diesen Entwicklungsabschnitt ab drei Jahren. Dinge die Kinder sich rational nicht erklären können, werden magisch und wundersam gemacht, um sie besser fassen zu können. Da schüttelt Frau Holle die Kissen aus, da deckt sich das Tischchen selbst und die Bremer Stadtmusikanten gehen auf große Tournee. Alles ist möglich, denn die Märchenstunde hat geschlagen.

Heute Dornröschen, Morgen ein Prinz

Sich selbst im Mittelpunkt zu sehen, ist Teil der kindlichen Entwicklung. Daher sind Kinder im Spiel ein tapferer Ritter oder eine schöne Prinzessin. Entsprechend leicht fällt es den Kleinen, sich in die zauberhaften Abenteurer hineinzuversetzen. „Kinder und Erwachsene brauchen Märchen, weil sie die Fantasie beleben und Modelle mitgeben, die helfen, das Leben in Krisensituationen besser zu bewältigen“, erklärt Dr. Johannes Wilkes, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in Erlangen. „Märchen sollen spannend sein und unterhalten. Das sind sie nur, wenn sie uns berühren und das passiert in Geschichten, die uns was angehen.“ Kinder identifizieren sich noch viel stärker mit ihren Helden als Erwachsene, tauchen also intensiver in das Geschehen ein. Durch das „Lernen am Modell“, wie Wilkes es ausdrückt, erweitern Kinder ihr Lebensspektrum und merken, dass man auf unterschiedliche Situationen auch unterschiedlich reagieren kann.

Ordnung im Chaos

Dass die Struktur von Märchen stets gleich ist, hilft sehr beim Annehmen und Verstehen: Das Gute ist eindeutig gut, das Böse ist eindeutig böse. Schwarz-Weiß-Denken ist ausnahmsweise mal nicht engstirnig. Selbstverständlich, aber auch werteorientierend ist, dass die Geschichten immer gut enden: Das hässliche Entlein wird schön, Rotkäppchen entkommt dem Wolfsmagen und der Frosch wird zum Traumprinzen. Das Gute siegt über das Böse und belohnt wird, wer sich anständig verhält. Ende gut, alles gut. Klare Strukturen helfen, sich in der Welt zurechtzufinden. Dass es noch Grautöne gibt, lernen die Kleinen im realen Leben erst deutlich später.

Ich bin ein Held

Kinder lieben es, sich mit dem Helden zu identifizieren (übrigens noch voll und ganz geschlechterunabhängig). „Märchen sind eine tolle Flucht aus der Realität. Sie geben uns einen Raum der Fantasie, der selbst gestaltet werden kann“, erklärt Birga Ipsen, Gastregisseurin am Nürnberger Figurentheater Salz & Pfeffer. Dort bereitet sie derzeit eine Inszenierung der „Bienenkönigin“ vor – einem eher unbekannten Stück der Grimms, das ab dem 1. Dezember 2019 aufgeführt wird. Empfohlen wird es ab neun Jahren.
Die Bienenkönigin: Zwei schlaue und ein etwas dümmlicher Königssohn ziehen aus, um Abenteuer zu erleben. Während die zwei älteren Brüder nur Blödsinn im Kopf haben, beschützt der jüngste und einfältige Bruder alle Tiere vor den Quälereien der beiden anderen. Als die drei mehrere Aufgaben lösen müssen, um ein versteinertes Schloss wieder zum Leben zu erwecken, kommen dem Dümmling jene geretteten Tiere zu Hilfe. Selbstverständlich gewinnt er für sein großes Herz am Ende die schöne Prinzessin und das tolle Schloss. Ende gut…

Auf drei geht’s los!

Mit drei Jahren etwa verstehen Kinder die ersten Märchen. Dann beginnt die magische Phase und – je nach sprachlicher Entwicklung – dann erfassen sie, worum es geht. „Setzen Sie beim Märchenerzählen am besten auf Wiederholungen“, rät Psychologe Wilkes. „Kinder brauchen naturgemäß länger, um den Sinn zu erfassen. Dabei wird es ihnen auch nicht langweilig. Im Gegenteil.“

Blutende Füße und Dornen in den Augen

Wer sich nach langer Zeit mal wieder in die Grimm’sche Welt einliest, staunt meist nicht schlecht, wie grausam und brutal manche Geschichte ist: Da werden Augen ausgestochen, Hexen verbrannt und böse Stiefmütter müssen auf glühenden Schuhen tanzen, bis sie tot umfallen. Dass man das Ausmaß der Gewalt häufig nicht mehr in Erinnerung hat, liegt ganz einfach daran, dass man die martialische Verrohtheit als kleines Kind ganz anders wahrgenommen hat: Kinder empfinden die drakonischen Bestrafungen der Bösewichte nämlich als fair, schließlich werden in den bösen Wolf und die fiese Hexe die eigenen Ängste projiziert – und besiegt. So bekommt eben jeder das, was er verdient.

In Märchen werden die Kleinen ganz groß

Märchen thematisieren menschliche Stärken und Schwächen sowie viele Ängste wie vor Verlassenwerden, Tod oder Dunkelheit, die die meisten Kinder im Laufe ihrer Entwicklung durchleben. Da jedes Märchen aber stets gut endet, werden auch die Ängste erfolgreich bekämpft und weichen Mut und Zuversicht.

Den Kindern werden für verschiedene Konfliktsituation passende Lösungen an die Hand gegeben, wie beispielsweise bei Überwindung von Furcht oder Eifersucht. In den fantasievollen Geschichten nehmen diese Gestalt an und werden von den Hauptfiguren (und im Spiel und in der Fantasie von den Kindern selbst) besiegt.

„Märchen sind eine Art Seelennahrung…“

…fasst der Erlanger Psychologe Wilkes zusammen. Daher ist die entsprechende Atmosphäre, in der sie erzählt werden, für Kinder fast genauso wichtig, wie die Geschichte selbst: Eingekuschelt in Mamas oder Omas Arm trotzt man dem bösen Wolf und begleitet Hänsel und Gretel mutig durch den Wald. Geborgenheit schafft Vertrauen. Rituale, wie beispielsweise eine Märchencouch oder Kerzenlicht sorgen dafür, dass die Erinnerung lange lebendig bleibt und auch die Spannung für die Kleinen besser auszuhalten ist. Dabei kann der Funke aber nur überspringen, wenn auch der Erzähler schon für die Geschichte brennt. Das heißt: Nur wer sich Mühe bei der Märchenstunde gibt, wird am Ende auch mit strahlenden Augen belohnt.

„Erwachsene begreifen und interpretieren Märchen noch mal ganz anders als Kinder“, erklärt Birga Ipsen. „Man liest sie zwar den Kindern vor, macht das aber natürlich auch ein bisschen für sich selbst, denn dabei kommen viele Erinnerungen und Gefühle aus der eigenen Kindheit wieder hoch.“ Aufregung, Ängste, kaum auszuhaltende Spannung – ganz wunderbar war das damals und ist es heute wieder. Deshalb ist nicht nur das Was, sondern besonders das Wie beim Märchenerzählen wichtig.

Erzählt mehr Märchen

„Es gibt einige Märchen, die sich als Einstiegsmärchen eignen, wie beispielsweise der Wolf und die sieben Geißlein, Rapunzel, Schneewittchen oder Dornröschen“, rät Dr. Wilkes. Wer es sich zutraut, sollte lieber frei nacherzählen, anstatt vorzulesen. Dabei schafft man nicht nur mehr Nähe, sondern nimmt automatisch zu viel Brutalität raus. Auch schön gezeichnete Bilderbücher können dabei unterstützen.

Nichts regt die Fantasie so an, wie die bunte Welt der Märchen. Aus den vorgelesenen Worten entwickeln sich Bilder, die zum Nachspielen oder Besprechen einladen. Die Faszination für Märchen verliert sich in der Regel wieder, wenn Kinder selbst anfangen zu lesen. Durch den frühen Kontakt zu Büchern stehen die Chancen gut, dass die Kids auch später gern und viel lesen werden. Ipsen trifft den Nagel auf den Kopf:

 „Die Magie des Märchens liegt darin dass man auch als Erwachsener noch  eine Gänsehaut bekommt und gar nicht weiß, warum.“

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