Loslassen

Eine Reise durch die Phasen des Abschiednehmens

Loslassen kostet weniger Kraft als Festhalten – und trotzdem ist es schwerer. Eine Erfahrung, die Frauen bereits bei der Geburt machen. Das Kind gehen zu lassen, sich zu öffnen, sich auch selbst ein Stück weit gehen zu lassen – das ist nicht so einfach, wie es scheint. Und es ist erst der Beginn der jetzt kommenden vielen Phasen des Abschiednehmens.

Die Geburt - der erste Abschied

Vögel sind da pragmatisch. Es könnte sein, dass du jetzt fliegen kannst? Super, dann raus aus dem Nest. Oh, du konntest es nicht? Sorry – der Nächste bitte! Wir Menscheneltern tun uns da etwas schwerer. Die Psychotherapeutin Irmtraud Tarr hat sich intensiv mit dem Thema beschäftigt und sieht bei jedem Loslassen in unserem Leben einen direkten Zusammenhang zur Geburt. In einem Interview mit der Zeitschrift „Psychologie heute“ hat sie es einmal so ausgedrückt: „Deswegen löst das Loslassen Sehnsüchte aus (…). Und eben auch Ängste vor dem Alleinsein, Getrenntsein, Verlassensein. Ich denke, im Loslassen ist eine ganz tiefe Lebenserfahrung verborgen. Es ist ein kleines Sterben, immer wieder.“ Wer einmal geliebt hat und den anderen weiterziehen lassen musste,der weiß, was sie mit diesem inneren Sterben meint.

Viele werdende Mütter lieben das Gefühl während der Schwangerschaft – dieses Spüren des Lebens in einem, die Zweisamkeit, die Kommunikation mit dem Ungeborenen, bewusst und unbewusst. Kommt das Baby auf die Welt, löst es sich aus dem Mutterleib. Aus der Zweisamkeit kann Einsamkeit werden – ein Stück weit zumindest. Oft ist es nur ein diffuses Gefühl, das es der Mutter schwer macht, ihr Kind loszulassen, in die Welt gehen zu lassen. Und das die Geburt verzögert und schwieriger macht. Nicht umsonst sprechen wir von Ent-Bindung.

Das Kind bei seinem Weg unterstützen

Das Loslassen von Kindern – und später auch Jugendlichen und jungen Erwachsenen – ist ein wichtiger, oftmals auch schwieriger Prozess für Eltern. Aber unser Nachwuchs braucht den altersgerechten Freiraum, um sich zu entwickeln, um eigene Entscheidungen treffen, den eigenen Weg gehen zu können. Ist uns das nicht bewusst, machen wir es auch unserem Kind schwer. Jeder, der sein Kleines das erste Mal in einer Krippe oder Kita lassen muss, leidet. Der eine ein bisschen, der andere so sehr, dass er es auch dem Kind schwer macht, sich zu lösen. Dabei ist das EINE UNSERER WICHTIGSTEN ELTERNAUFGABEN: DAS KIND ERMUTIGEN, SEINEN WEG ZU GEHEN, UND ES DABEI UNTERSTÜTZEN, IHM HELFEN, SICHER UND SELBSTBEWUSST ZU WERDEN. EIN PROZESS, DEN BEIDE SEITEN ERST LERNEN MÜSSEN.

Lektionen, die wir auf dem Spielplatz mit der hohen Rutsche genauso erfahren wie am ersten Schultag, wenn das Kind allein in diesem Riesengebäude verschwindet, wenn es das erste Mal auf Klassenfahrt fährt, genauso wie in dem Moment, in dem es peinlich ist, wenn wir unser Begrüßungsküsschen einfordern. Es sind die Momente, in denen wir von einer geplanten Übernachtungsparty erfahren, und die, in denen wir bemerken, dass unser Nachwuchs das erste Mal verliebt ist. Und wir plötzlich gar nicht mehr wichtig scheinen. Buddha nannte das Loslassen den Schlüssel zum Glück. Wir hingegen bejammern das „Empty Nest“. Natürlich ist es schwer, die Kinder ziehen zu lassen, sie ihre eigenen Fehler machen zu lassen, nicht mehr die Hauptperson in ihrem Leben zu sein.

Dem Kind etwas zutrauen

Aber manchmal hilft es, den Blickwinkel zu ändern: Wie schön ist es, dass sich unsere Kinder zutrauen, auf eigenen Füßen zu stehen. Dass wir sie so selbstbewusst erzogen haben, dass sie es auch ohne uns schaffen werden. Und wir sollten uns fragen: Was brauchen wir selbst, vielleicht auchals Paar, um uns nicht nur als Eltern zu sehen?Wir haben, wie Goethe es einmal nannte, unseren Kindern Wurzeln und Flügel gegeben, und jetzt können wir es genießen, ihrem stolzen Flug zuzusehen. Und keine Sorge: Ratgeber, Staubsaugerreparierer und Auffangstation in schweren Lebenslagen bleiben wir doch trotzdem. Und vielleicht werden wir sogar irgendwann Enkelbetreuer – und dann geht vieles von vorne los. In einer ganz neuen Dimension.

Text Simone Blaß

WENN DU WIRKLICH BEGRIFFEN HAST,
WAS DAS IST LOSLASSEN, HINGABE
WENN ALLES IN DEINEM KÖRPER OFFEN, FREI UND ENTSPANNT IST,
AUCH DER MUND, DER HALS, DIE HÄNDE, DIE AUGEN,
DANN BRAUCHST DU IM GRUNDE NICHTS MEHR ZU TUN.

ES IST WIE IN DER LIEBE ÖFFNE DICH UND LASSE ES GESCHEHEN.
LASS DAS KIND ZUR WELT KOMMEN.
ES GENÜGT SCHON, DASS DU IHM NICHTS ENTGEGENSETZT
DASS DU DICH NICHT FÜRCHTEST, DICH NICHT VERWIRREN LÄSST
VON DER KRAFT, DER UNGEHEUREN GEWALT,
MIT DER DAS KIND GEBOREN WERDEN WILL.

ES IST DEIN HÖCHSTES OPFER,
DEIN VOLLKOMMENER VERZICHT.
ETWAS IN DIR MUSS DEM KIND SAGEN KÖNNEN:
JA, VERLASS MICH.
DAS IST DAS LEBEN.
VOR DIR.
NIMM ES.

Frédérick Leboyer, Begründer der sanften Geburt

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