Alkohol in der Schwangerschaft

Jeder Schluck ist ein Schluck zu viel
Alkohol in der Schwangerschaft

Ein Schlückchen in Ehren kann niemand verwehren? O doch! Ganz unbedingt und bitte werdende Mamas! Alkohol während der gesamten Schwangerschaft ist wie Russisches Roulette – jeder Schluck kann schlimme Folgen für das Kind haben: Fehlbildungen, geistige Behinderungen, Wachstums- und Entwicklungsstörungen.

FASD - Fetal Alcohol Spectrum Disorders

Die Medizin fasst diese irreparablen Schädigungen unter dem Begriff „Fetal Alcohol Spectrum Disorders“, kurz FASD, zusammen. Die Diagnose ist schwierig, die Betroffenen leiden ein Leben lang.
Schätzungen zufolge wird in Deutschland jede Stunde ein Kind mit einer Fetalen Spektrumstörung geboren, verursacht durch Alkohol in der Schwangerschaft. „Ein Leben mit Überforderung, Chaos und Verzweiflung beginnt“, steht auf einem Informationsflyer des FASD Netzwerks Nordbayern e. V. Eindringliche Worte, die nötig sind, weil die Gefahren von pränatalem Alkoholkonsum von werdenden Müttern und auch von der Gesellschaft offenbar noch immer unterschätzt werden. Der Verein will aufklären, Bewusstsein schaffen und Betroffene unterstützen. Seit Mai 2020 unterhält er in Erlangen eine Beratungsstelle.

Warum ist Alkohl in der Schwangerschaft so gefährlich?

Warum ist Alkohol für das Ungeborene so gefährlich? „Alkohol ist ein Zellgift, das während der ganzen Schwangerschaft die Gehirnbildung schädigen kann, erklärt die Erste Vorsitzende des FASD Netzwerks Nordbayern, Dr. Gisela Bolbecher. Das Gift durchdringt die Plazenta und gelangt so direkt in den sich entwickelnden Fötus. Selbst wenn die werdende Mutter nur selten oder wenig Alkohol konsumiert, besteht in jedem Entwicklungsstadium ein Risiko. Unbedenklich ist kein Schluck zu keiner Zeit der Schwangerschaft. Doch noch immer halten sich
Mythen wie diese: „In den ersten drei Monaten der Schwangerschaft darf man doch.“ Oder: „Ein Gläschen für den Kreislauf kann ja wohl nicht schaden.“

Es gibt keine Untergrenze

Alles risikoreicher Irrglaube: „Es gibt keine Untergrenze“, betont Jasmin Rüffer, Leiterin der Erlanger FASD-Beratungsstelle. Die Folgen können schwerwiegend und sehr vielfältig sein. Die Bandbreite reicht von Fehlbildungen, Wachstums- und Entwicklungsstörungen über geistige Behinderungen bis hin zu extremen Verhaltensauffälligkeiten. Irreparabel sind alle. Manche Betroffenen leiden an nicht sichtbaren Schädigungen, etwa Missbildungen von Organen, manche kriegen das ganze Spektrum ab.

Schwere Schädigungen durch Alkohol in der Schwangerschaft

Weil das Krankheitsbild so viele Ausprägungen hat, ist eine Diagnose schwierig. Äußere Merkmale, die im Alter zwischen acht Monaten und zehn Jahren am sichtbarsten sind, können ein Anhaltspunkt für eine Fetale Spektrumstörung sein. „Betroffene haben Veränderungen im Gesicht, etwa eine schmale Oberlippe, ein fliehendes Kinn, und die Rinne zwischen Oberlippe und Nase ist meist flach“, nennt Gisela Bolbecher einige Beispiele. In eine falsche Schublade gesteckt werden FASD-Kinder häufig wegen ihrer Verhaltensauffälligkeiten. „Viele bekommen eine ADHS-Diagnose, aber es ist viel mehr als das“, sagt die Netzwerkvorsitzende. Denn sie haben nicht nur mit Aufmerksamkeitsdefiziten und Hyperaktivität zu kämpfen, sondern auch mit Aggressionen, geringer Ausdauer und einer extremen Vergesslichkeit.

Ist das Frontalhirn im Mutterleib geschädigt worden, hat das Auswirkungen auf das Sozialverhalten. „Die Exekutivfähigkeiten sind dann gestört“, so Bolbecher. Diese regulieren zum Beispiel unsere Selbstkontrolle, wie wir mit Emotionen wie Angst oder Wut umgehen. Betroffene können zudem Erlerntes nur schwer behalten, sind nicht fähig, aus Fehlern und Erfahrungen zu lernen oder Risiken richtig einzuschätzen. Das alles macht schon den ganz normalen Alltag für sie und Angehörige zu einer enormen Herausforderung. „Achtzig Prozent aller Betroffenen
können später nicht eigenständig leben“, macht Bolbecher das Ausmaß sichtbar.

Unterstützung bei FASD

Welche Therapiemöglichkeiten gibt es? Fetale Spektrumstörungen sind nicht heilbar, Ziel von individuell abgestimmten Therapien ist es, die Stärken der Kinder zu fördern und sie bei der Bewältigung des Alltags zu unterstützen. Was FASD-Betroffenen hilft, sind feste Strukturen. „Sie brauchen ein Umfeld, in dem sie nicht permanent in Überforderungssituationen kommen“, erklärt Jasmin Rüffer. Nützlich seien immer gleiche Rituale, ständige Wiederholungen und Routinen. „Manche verwenden Piktogramme im Alltag, an denen sich die Kinder orientieren können“, verdeutlicht die Sozialpädagogin. Das können zum Beispiel im Bad aneinandergereihte Symbole von einer Dusche und einer Zahnbürste sein. Angehörige sollten darauf achten, nur kurze, eindeutige Botschaften an sie zu richten, bestenfalls mit stets gleichen Wortverknüpfungen, ihnen zudem nie mehrere Aufgaben gleichzeitig auferlegen. FASD verlangt allen Beteiligten viel Geduld ab. Einmal Erlerntes muss mühsam immer wieder aufs Neue geübt werden. „Bezugspersonen fungieren oft als externe Festplatte und leiten die Kinder durch den Tag.“

Alkohol in der Schwangerschaft als Tabu

Ein großes Problem, das häufig mit dem Krankheitsbild einhergeht, ist Einsamkeit. FASD-Kinder ecken an, ihr Verhalten wird nicht selten als Provokation verstanden. „Sie sind viel alleine, sie werden nicht zum Kindergeburtstag eingeladen, haben kaum Freunde“, weiß Rüffer. Ziel des Netzwerkes ist es deshalb auch, Betroffene und Angehörige zu vernetzen. Aktuell soll ein Gruppenangebot speziell für Jugendliche ab 14 Jahren aufgebaut werden. Alkohol in der Schwangerschaft ist ein schambesetztes Thema. Das macht die Diagnose von FASD ebenfalls so schwierig. Welche Mutter will schon zugeben, dass sie in dieser Zeit das ein oder andere Gläschen getrunken oder sogar ein Suchtproblem hat? Jasmin
Rüffer würde sich wünschen, dass mehr Frauen den Mut finden, darüber zu sprechen und sich helfen zu lassen. An die Beratungsstelle wenden sich derzeit meist Pflege- oder Adoptiveltern, die auf der Suche nach Ursachen für die Leiden ihrer Zöglinge sind. Sie können oft nicht mehr nachvollziehen, ob Alkoholkonsum in der Schwangerschaft der Grund für deren Behinderungen ist. Es gibt auch Erwachsene, die bereits ein Leben lang unter den Folgen leiden, ohne je genau einordnen zu können, was ihnen fehlt. Auch für sie setzt sich das FASD Netzwerk Nordbayern ein.

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